Ostfriesland im Winter? Natürlich, kulturell und für alle Sinne

Joke Pouliart von „waddensea.travel“ ist zertifizierter Nationalparkguide. Er lebt in Carolinensiel und betreibt dort unter anderem das Wattwanderzentrum Ostfriesland. Er hat auch viele Jahre auf Langeoog gelebt, kennt also die Region bestens. Jetzt war er mit einer Gruppe Schweizern unterwegs. „Winterliches Ostfriesland“ heißt die Reise, die immer um diese Zeit im Angebot ist. Aber diesmal gab es mächtig Sturm.

Joke, bei 11 bis 12 Windstärken auf dem Deich stehen, das haut den stärksten Schweizer weg, oder?

Joke: Nicht nur den Schweizer. Das habe ich selten. Ich erzähle von den Kräften der Natur und dann kommt dieser mächtige Sturm. Da wird allen klar, wie eng wir hier im Nordwesten Deutschlands mit der Natur verbunden sind. Selbst die Fähre nach Langeoog fuhr nicht mehr. Die Schweizer hat das sehr beeindruckt, aber sie kennen das auch von zu Hause, nur anders. Die Gletscher schmelzen, die Hangrutsche nehmen zu.

Ziel der Reise war es ja, Natur und Kultur von Ostfriesland zu vermitteln. Was habt ihr noch gemacht?

Joke: Schwerpunkt ist dabei alles, was mit der Natur zu tun hat. Dazu kommen wir gleich. Zum Kulturanteil soviel: Ich bin ja auch sonst als Deichgraf unterwegs und gehe entsprechend gekleidet mit den Gästen auf Zeitreise. Da geht es auch um Sturm, mehr noch, um die Weihnachtsflut 1717, Leben und Tod. Es geht um die Entstehung der Küste. Wir wissen ja: Gott schuf das Meer, der Friese die Küste. Und viele glauben ja nicht, wie sehr alle hier damit bis in jüngste Zeit beschäftigt sind.

Gott schuf das Meer, der Friese die Küste. Damit hat er bis heute zu tun.

 

Wie das?

Joke: Ernsthaft gab es in den 1960er-Jahren Ideen, das Watt trockenzulegen und die vorgelagerten Inseln zu verbinden, um sie als geschlossene Deichkette zum Schutz des Festlandes zu haben. Insulaner und Naturschützer protestierten. Die Idee eines Nationalparks entstand, 1985 kam das Wattenmeer in Schleswig-Holstein unter Schutz, 1986 bei uns in Niedersachsen, 2009 wurde alles zum Weltnaturerbe ausgezeichnet. Was für ein Gewinn!

Auch für die Außerfriesischen …

Joke: Genau. Tourismus gibt es seit mehr als 150 Jahren. Wir verstetigen ihn, fördern ihn, setzen nicht auf Masse, sondern entwickeln eine hohe Qualität. Das kommt der Region zugute.

Hohe Qualität, das mögen die Schweizer. Wie haben sie das wahrgenommen?

Joke: Die Bioprodukte, das feine Essen. Da bieten wir alles auf. Wir haben im Haus Gulfhaus Friedrichsgroden in Carolinensiel gekocht, es gab typischen Grünkohl im Winter, Steckrüben in feiner Art, Neujahrskuchen, Rote Grütze und Deichlamm. Auf Langeoog waren wir im Seekrug, das ist feinste Bioküche mit regionalen Produkten. Wir binden viele Nationalparkpartner in so eine Reise ein.

Lecker im Gulfhaus essen: Grünkohl, Grütze und Deichlamm

 

Da bin ich erleichtert, es ging doch noch nach Langeoog. Wie steht es mit Tee?

Joke: Natürlich waren wir im Teemuseum Bünting in Leer. Der Museumspädagoge hat uns genau erklärt, wie der Tee hierher kam, wir haben ihn probiert, die Sahne richtig herum einfließen lassen. Wir erfuhren, wie das Porzellan seinen Weg nach Ostfriesland fand. So etwas beeindruckt die Gäste. Wir waren auch in Jever in der kleinen Altstadtbrauerei Marienbräu. Da konnten alle zuschauen, wie nach dem deutschen Reinheitsgebot von 1516 gebraut wird, und natürlich etwas verkosten.

Teemuseum Bünting in Leer

Altstadt Leer

 

Wart ihr auch beim Blaudrucker?

Joke: Klar, gleich um die Ecke im Kattrepel, in einem Speicher von 1822. Das ist ein mehr als 200 Jahre altes Handwerk mit Modeln, also Druckstöcken, die von Hand gefertigt werden. So werden die Muster auf den Stoff gebracht, in der Küpe mit Indigoblau ausgefärbt. Am Ende strahlen weiße Formen auf blauem Grund. Herrlich. Da haben die Schweizer reihenweise eingekauft.

Druckstöcke von Hand gefertigt – herrliche Muster auf Blau

 

Das glaube ich, für altes Handwerk haben sie Gefühl. Ich erinnere mich an die Kunst des Scherenschnitts in der Schweiz. Habt ihr noch mehr Handwerk erlebt?

Joke: Ja, wir haben sogar selbst Bernstein geschliffen. Ich habe dazu erzählt, wie der Bernstein hierher kam und kommt und wie er hier verarbeitet wird. Jeder konnte sich einen Schmuckanhänger selbst schaffen. Das haben alle sehr gemocht. Und dann trugen sie bis zum Ende der Reise diesen Bernstein stolz an einer Kette um den Hals.

Dann sind bei dieser Reise ja wirklich alle Sinne angesprochen. Boßeln war auch dabei?

Joke: Hatten wir vorbereitet, mit Bollerwagen, aber das Wetter. Nee, diesmal ging es nicht. Doch Ostfriesland authentisch aus erster Hand zu erleben, das ist voll gelungen. Von Seehunden bis Seevögeln, von Blaudruck und Bernstein sowie vom Gulfhof bis zur Goldenen Linie.

Seehundstation Norddeich

 

Was ist die Goldenen Linie?

Joke: Das ist die schon im 17. Jahrhundert mit dem Lineal gezogene Grenze zwischen dem Fürstentum Ostfriesland und der Grafschaft Oldenburg in der Harlebucht. Nach der Landgewinnung gab es Streit um die Herrschaft über das Gebiet. Es gibt noch eine alte Leinenkarte aus der Zeit. Da sieht man, wie von einem Punkt am Ostrand von Spiekeroog und einem weiteren am Westrand von Wangerooge die obere Kante eines Dreiecks verlief, das unten auf einen Punkt zulief. Der befand sich auf einem Deich an Land bei Neufunnixsiel. Dieses Dreieck wurde senkrecht halbiert. Das war die Goldene Linie.

Oh je, ich glaube, da brauche ich eine Teetied, damit ich das verstehe. Ich hole mir eine Karte und zeichne am besten selbst. Ist die Linie denn heute noch wichtig?

Joke: In den Köpfen der Menschen ist sie noch immer verankert. Die Geschichte um die Goldene Linie wird von beiden Seiten hochgehalten. Sie grenzt die Landkreise Wittmund und Friesland – also Jever – ab, zum anderen sind westlich Ostfriesland und östlich Friesland zu finden.

Dann gehört Wangerooge gar nicht zu Ostfriesland, sondern zu Friesland, ist das nicht so? Die Schweizer werden das verstehen mit ihren vielen Kantonen und Sprachen. Gab es denn hier auch so einen wie den Freiheitskämpfer Wilhelm Tell?

Joke: Ja, Wangerooge gehört zu Friesland. Und hierzulande gab es Häuptlinge, aber dazu kommen wir nächstes Mal …

Vielen Dank für das tolle Interview Joke Pouliart und die Eindrücke in das winterliche Ostfriesland. Alle Informationen zum Wattwanderzentrum Ostfriesland finden Sie auf http://www.wattwanderzentrum-ostfriesland.de/ sowie weitere Informationen zu den Reisen am UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer ab September 2020 und zu der Reise im Jahr 2021.

 

Dieser Artikel wurde durch das INTERREG V A-Projektes“ Watten-Agenda“ durchgeführt. Das Projekt wird im Rahmen des INTERREG-Programms von der Europäischen Union und den INTERREG-Partnern finanziell unterstützt.

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