Mit dem kapriziösen Wesen der See, mit Prielen, Wellen sowie Winden kennen sie sich aus. Und mit Psychologie. Norderneys Strandkapitänen ist nichts Menschliches fremd. Defekte Rollstuhlreifen, Sand im Auge, Muskelkrämpfe und kaputte Volleyballnetze sind nur einige ihrer Aufgabenfelder. Julian Ipsen, seit 22 Jahren im roten Trikot, wurde der Beruf anno 1975 sogar in die Wiege gelegt.
Wer Julian Ipsen an seinem Strand auf Norderney besucht, sollte Zeit mitbringen – an einem Bilderbuchsommertag jedenfalls. Alle paar Minuten muss der Rettungsschwimmmeister das Gespräch unterbrechen. „Qualle?“ – ein Blick und die lindernde Salbe ist schnell zur Hand. „Sonne? Viel trinken und sofort in den Schatten!“
Zugegeben – der Alltag in seiner Station an Norderneys Ostbadestrand „Weiße Düne“ klingt weniger spektakulär als im US-TV-Hit Baywatch. Glamour interessiert Julian Ipsen und die übrigen „Fachangestellten für das Bäderwesen“ der Insel indes wenig. Ihre erklärte Mission ist die Prophylaxe. „Klar ist es cool, mit dem Jetski über weiße Schaumkronen zu jagen, um eine perfekt gestylte Nixe aus den Fluten zu retten“, sagt Julian Ipsen. „Noch cooler finden wir es allerdings, unser Equipment gar nicht erst zu brauchen. Schließlich sind wir hier, um zu verhindern, dass jemand in Bedrängnis gerät.“
Seit sechs Jahrzehnten ist im konzessionierten Badebetrieb Norderneys kein Mensch zu Schaden gekommen. Diese Traumbilanz verdanken Gäste und Gastgeber dem umfassenden Sicherheitskonzept der Insel, das weit über den Einsatz ehrenamtlicher DLRG-Kräfte hinausgeht. „Viele Menschen unterschätzen die Tücken der Nordsee“, erzählt Julian Ipsen. „Wir nicht – an unserem einen Kilometer langen Strand haben wir jedes Zucken im Blick. Bei ruhiger See stehen wir mit dem Fernglas auf unserem Posten. Dann findet sich auch mal Zeit für Instandsetzungsarbeiten oder einen Plausch. Bei Sturm und Brandung, die Surfer und Kiter naturgemäß lieben, wacht hingegen eine Kette von fünf Top-Schwimmern am Wassersaum. Der Aufwand und unsere Verantwortung sind immens – schließlich garantieren wir bei jedem Wetter tidenunabhängige Servicezeiten von 11 bis etwa 15 Uhr und an schönen Tagen auch bis 18.30 Uhr.“
Nicht die See, sondern sein Herz drohte dem Badegast zum Verhängnis zu werden. 2013 war er nach einem Infarkt im Wasser klinisch tot. Julian Ipsen und ein Teamkollege konnten ihn reanimieren. Wie durch ein Wunder erlitt der betagte Herr keinen bleibenden Schaden. Genau ein Jahr später kehrte er zurück, um dem Strandkapitän und seinem Team zu danken. „Ein Meilenstein in unser aller Leben“, sagt Julian Ipsen.
Wenn er sagt, seine Aufgabe als Rettungsschwimmer sei ihm Berufung, klingt er ganz und gar nicht pathetisch. Der Strand sei nun einmal der Ort, in den er hineingeboren worden sei. Den einmaligen Versuch, dauerhaft in einer anderen Welt zu leben, legte Julian nach drei Monaten Musikstudium in Braunschweig ad acta. „Da war jener Moment, in dem ich dachte: „Wenn du jetzt hierbleibst, wirst du dein gesamtes Leben in der Stadt verbringen. Ich packte, fuhr zur Fähre und kehrte nie zurück.“